Wesen des japanischen Tanka-Gedichtes

Einführung in die japanische Lyrik

Mit den japanischen Reichschroniken Kojiki (um 712 n. Chr. niedergeschrieben) und Nihonshoki (um 720 n. Chr. verfasst) beginnt die reichhaltige japanische Poesie. Es sind die zwei ältesten schriftlich überlieferten Lyrikwerke Japans. Etwas später wurde das Man’yōshū herausgegeben, das mit 4.496 Gedichten eines der längsten lyrischen Gesamtwerke im japanischsprachigen Raum darstellt. Die 759 n. Chr. erschienene Gedichtanthologie reicht ins 6. Jahrhundert, vereinzelt sogar ins 4. Jahrhundert n. Chr. zurück. Dabei wurden nicht nur die Verse des Hochadels, sondern auch die Werke einfacher Volksschichten veröffentlicht.

Der Oberbegriff für Gedicht bzw. Lied heißt im Japanischen „uta“. „Waka“ ist wiederum ein Sammelbegriff für die diversen Stilrichtungen in der japanischen Lyrik. Die wichtigsten Formen heißen: Tanka, Chōka, Sedōka und Haiku.

Was ist das Tanka?

Das Tanka ist eine ca. 1300 Jahre alte Gedichtform aus Japan. Sie besteht aus 31 Moren. Die ersten Tankas finden sich in der Gedichtanthologie Man’yōshū. Das Tanka zeichnet sich durch eine hohe Präzision und eine sprachlich-ästhetische Form aus. Obwohl das Tanka über Jahrhunderte hinweg einer steten Entwicklung unterworfen war, wurde die starre Form von 31 Moren beibehalten.

Das Tanka-Gedicht wird in fünf Zeilen mit dem Moren- bzw. Silbenschema 5-7-5-7-7 niedergeschrieben. Es hat sich eine aus zwei Teilen bestehende Gliederung etabliert. Der erste Teil ist der Oberstollen mit dem Silbenschema 5-7-5. Der zweite Teil ist der Unterstollen mit dem Silbenschema 7-7. Üblich ist, dass der Oberstollen vom Unterstollen mit einer Leerzeile getrennt wird. Durch das Weglassen des Unterstollens wurde eine neue Form begründet, die zum Haiku führte.

Das Verfassen von Tankas ist eine Kunst, bei der sich alles darum dreht, mit möglichst wenigen Worten eine maximale Aussagedichte zu erzielen. Einzelne Worte müssen sorgsam ausgewählt und platziert werden. Es geht darum, nichts Unnützes oder Unnötiges niederzuschreiben und der Suggestion und Vorstellungskraft einen maximalen Raum zu überlassen.

Zu den heute bekanntesten Tanka-Dichtern gehören Yoshimi Kondō (1913–2006), der für seine Gedichte ausnahmslos die Tanka-Form verwendete, und die Kaiserin Michiko Shōda (geboren 1934), Ehefrau des emeritierten Tennō Akihito. In ihrem Werk „Nur eine kleine Maulbeere. Aber sie wog schwer“, das 2017 im Herder-Verlag erschienen ist, hat Kaiserin Michiko fünfzig Tanka-Gedichte veröffentlicht. Neben einigen persönlichen Erlebnissen haben die Tankas auch weltpolitische Ereignisse zum Thema, wie die Sprengung der Buddha-Statuen von Bamiyan durch die Taliban im März 2001. Die Übersetzung der japanischen Tankas gestaltete sich als sehr schwierig und anspruchsvoll. Für die Übersetzung von Kaiserin Michikos Werk wurde der Bonner Japanologe Peter Pantzer ausgewählt. Seine deutschen Verse wurden in Tokio noch einmal gegengeprüft. So wurde das deutsche Ergebnis von einem japanischen Germanisten in die Ausgangssprache zurückübersetzt, ohne dass dieser vom Original Kenntnis hatte. Daraufhin musste an einigen Stellen nachgebessert werden. Dieses mühsame Prozedere sollte sicherstellen, dass Pantzers Übersetzung so nah wie möglich an die Originalversion der Kaiserin herankommt.

Der „Exportschlager“ Haiku

In der Edo-Zeit, die von 1603 bis 1868 andauerte, entstand der japanische Haiku. Seine Vorläufer waren das Tanka und das Renga. Es dauert mehrere Jahrhunderte, bis sich aus beiden Formen zu Beginn der Edo-Zeit der Haiku entwickelte. Das strenge japanische Ständesystem und die Abschottung gegenüber Kontinentalasien ließen nicht nur gesellschaftlich, sondern auch literarisch wenige Neuerungen zu. In diesem geschlossenen Kreislauf hatte der Haiku beste Voraussetzungen, um sich ungestört entwickeln und seine lyrische Vormachtstellung ausbauen zu können. Der Name selbst ist eine Zusammensetzung aus den Begriffen „Haikai no Renga“ („hai“) und „hokku“ („ku“).

Auch die Religion hatte einen großen Einfluss auf die Haiku-Dichtung. Der aus China stammende Buddhismus konnte sich mit der Zeit in Japan etablieren. Waren anfangs Natur- oder Alltagsthemen vorherrschend, so trat später auch ein religiöser Tenor hinzu. Heutzutage herrscht keine generelle Themengebundenheit mehr, sondern Themenfreiheit.

Der bekannteste Haiku-Poet war Matsuo Bashō (eigentlicher Name: Matsuo Munefusa), der von 1644–1694 lebte. Der von ihm verfasste Haiku zum Frosch ist weltbekannt und wird als Mutter aller Haikus verehrt. Weitere berühmte Haiku-Poeten waren Masaoka Shiki (1867–1902), Kobayashi Issa (1763–1827) und Yosa Buson (1716–1783). Auch in der heutigen Zeit begegnet man mit Mori Sumio und Furusawa Taiho sehr bekannten Haiku-Verfassern.

Ein Haiku besteht aus drei Wortgruppen von fünf, sieben und fünf Moren. In anderen Sprachen hat sich damit das strenge 5-7-5 Silbenschema etabliert. Wesensmerkmal des Haikus ist seine Konkretheit. Es handelt sich oftmals um offene Gedichte, die erst im Geist des Lesers zur wahren Entfaltung kommen.

Gegenwärtig befindet sich die Haiku-Dichtung in starkem Umbruch. Das gilt insbesondere für den englischsprachigen Raum. Viele neue Wege werden beschritten und es ist spannend zu beobachten, wohin die neu eingeschlagenen Pfade führen werden.

© 2021 Michael Stern https://www.lyrissima.de