Wesen der modernen Lyrik

Was ist moderne Lyrik?

Der Unterschied zwischen traditioneller und moderner Lyrik ist recht augenfällig. Die Hauptmerkmale traditioneller Lyrik sind das feste Reimschema, das strenge Metrum, die metaphorische und gehobene Sprache. Ein sprachliches Korsett beherrscht die älteren Verse. Ganz anders ist hingegen die moderne Lyrik. Klang und Rhythmus moderner Gedichte haben die Ketten des Metrums nicht nur hinter sich gelassen, sondern gänzlich gesprengt. Der geschickte Einsatz von Anaphern, Alliterationen oder Assonanzen trägt zu einer völlig neuen Gedichtsmelodie bei. Oxymorone und Alltagssprache geben den heutigen Gedichten einen authentischen Anstrich und sorgen für höchste sprachliche Originalität. Traditionelle Formen und Normen werden über Bord geworfen. Grammatikregeln werden freier interpretiert. Die Interpunktion wird weggelassen oder exzessiv verwendet. An die Stelle des Ausformulierens ganzer Sätze tritt das Experimentieren mit einzelnen Nomen, Ausdrücken oder Wortgruppen. Besonderer Bedeutung kommen auch der Strophenbildung und den Zeilenumbrüchen zu. Mit ihrem cleveren Einsatz oder auch ihrer gänzlichen Abwesenheit werden der Textsinn geschärft und die Intention gestützt. Schnelle oder abrupte Satzbrüche und eine verdichtete Sprache erzielen mit einem minimalen Sprachmaterial eine maximale Wirkung beim Leser.

Die Individualität ist der hauptsächliche Wesenszug moderner Lyrik. Interessanterweise gibt es dennoch Strömungen, die es als unerlässlich ansehen, sich selbst Regeln aufzuerlegen. Als Beispiel sei der mehrheitlich französische Autorenkreis „L‘Ouvroir de Littérature Potentielle“ (dt.: „Die Werkstatt der Potentiellen Literatur“) genannt, der unter seinem griffigen Akronym „Oulipo“ besser bekannt ist.
Von den Gründungsmitgliedern François Le Lionnais und Raymond Queneau 1960 ins Leben gerufen, hat sich die Gruppe zum Ziel gesetzt, ihre Werke einem Formzwang – einer sogenannten „contrainte“ – zu unterwerfen. Die meisten Gründer stammen aus dem Collège de ’Pataphysique, das vor allem in den 1960er Jahren großen Einfluss hatte. Es sollte bis zum Jahr 1993 dauern, bis mit Oskar Pastior der erste deutschsprachige Autor in die „Oulipos“-Reihen aufgenommen wurde.
Verfolgt man „Oulipos“ Absichten genauer, so stellt man fest, dass nicht die „Literarisierung des Lebens“, sondern die „Literarisierung der Literatur“ erreicht werden soll. Es geht vornehmlich also weniger darum, sprachliche Grenzen zu setzen, sondern durch die selbstauferlegte „contrainte“ eine kreative Form für neue Gedanken zu schaffen.

Hervorzuheben ist Raymond Queneaus Werk namens „Hunderttausend Milliarden Gedichte“. Die 1961 erschienene Gedichtsammlung besteht aus einem Ensemble von zehn Sonetten, das auf den ersten Blick wenig spektakulär zu sein scheint. Mit einem Trick an den Zeilenendungen ist es jedoch möglich, die Zeilen so zu kombinieren, dass Hunderttausend Milliarden Sonette entstehen, die bei einer Lesezeit von jeweils einer halben Minute 95 Millionen Jahre Lesezeit bescheren. Diese Sammlung ist ein eindrucksvoller Beweis dafür, welches Potential und welche Schöpfungskraft der modernen Lyrik innewohnen.

© 2021 Michael Stern https://www.lyrissima.de